Günter Grass gehörte schon zu Lebzeiten zu einer Reihe von deutschen Künstlern, die nicht nur in einer Kunstrichtung brillieren. Autor, Bildhauer, Grafiker und Maler – diese künstlerischen Ausdrucksformen vereinte Grass in einer Person. Der 2015 verstorbene Grass galt bei vielen als unbequemer politischer Intellektueller, der besonders die Zeit der noch jungen Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung prägte. In seinem bildnerischen Werk stellt Grass immer wieder Querbezüge zu Gedichten oder anderen schriftstellerischen Arbeiten her. Auch die Zeichnung „Diana II“ fügt sich in die Reihe eigener Rückbezüge ein. Sie offenbart am Ende ein ganzes Universum von Bezügen, die Grass mit wenigen Strichen herzustellen vermag. In unserer Reihe `das besondere Kunstwerk´ beschäftigen wir uns heute etwas genauer mit diesem Unikat.
Günter Grass: Schriftseller und Illustrator als Meister der Bezüge
Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre befand sich Günter Grass auf einem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Karriere . Im Jahr 1959 erschien der Roman „Die Blechtrommel.“ Der Roman wurde mit großem Erfolg verfilmt und brachte die Werke des Autors einem größeren Publikum ins Bewusstsein. 1960 erschien der Gedichtband Gleisdreieck, den Grass auch selbst illustrierte. In dem Gedicht „Diana – oder die Gegenstände“ transferiert Günter Grass die römisch-antike Figur der Jagdgöttin Diana scheinbar in eine Beziehung zu sich selbst. Dabei drückt er vordergründig aus, dass ihn die Gegenständlichkeit dieser Göttin besonders anspreche.
Auch den Gedichtband Gleisdreieck hatte Grass selbst illustriert. Das Unikat „Diana II“ ist im Format 61 cm x 53 cm eine große, zeichnerische Variation der Buchillustration. Grass hat das Motiv mehrfach variiert. Beim Gedicht als auch bei der bildnerischen Umsetzung hatte Günter Grass eine plastische Vorstellung vor Auge: Diana von Versailles. Diese lebensgroße Marmorstatue zeigt die Jagdgöttin Diana/Artemis mit einem Hirsch. Die Skulptur ist ihrerseits eine Kopie einer griechischen Bronzestatue, die es heute leider nicht mehr gibt. Stilistisch nimmt Grass mit seiner Zeichnung die perfekten Proportionen der Skulptur auf und überführt sie in eine gröbere, handfestere Ordnung, die an Picasso erinnert.
Was macht dieses Werk besonders?
Günter Grass war sowohl als Schriftsteller als auch als Maler und Grafiker perfekt darin, Vordergründigkeit, Symbolik und versteckte Bezüge miteinander zu verweben. Auf den ersten Blick steht dieses Werk für sich. Es zeigt die Stilsicherheit von Grass, der mit Vorliebe seine eigenen schriftstellerischen Werke illustrierte. Mit dieser Einschätzung wird man dem Unikat allerdings nicht gerecht. Es empfiehlt sich bei diesem Künstler zu hinterfragen, welche weiteren Bezüge noch aufgebaut werden. Dabei muss man sich intensiver mit der Entstehungsgeschichte beschäftigen. Sowohl Gedicht als auch Illustration greifen auf eine antike Skulptur zu, die bereits eine Kopie einer weiteren antiken Skulptur ist. Für uns ist die römische Marmorfigur heute ein Original, die sogar im Pariser Museum Louvre einen eigenen Raum bekam. So verwischen sich die Grenzen zwischen Original und Kopie.
Der Transformationsprozess vom Abstrakten zum Gegenständlichen künstlerisch umgesetzt
Mit dem Gedicht nimmt Grass auf das Gegenständliche Bezug. Die Skulptur Diana von Versailles ist die Verkörperung einer bestimmten Idee. Sie verkörpert die Jagdgöttin, die die Römer als Diana und die Griechen als Artemis kannten. Hinter einer solchen Skulptur verbirgt sich ein ganzer Kosmos an Ideen, Mythen, Geschichten und Beziehungen in den antiken Götterkosmen, die zunächst wenig gegenständlich sind. Über eine Skulptur, und bei Grass über Gedicht und Illustration findet eine Transformation in die Gegenständlichkeit statt. Darauf nimmt Grass in seinem Gedicht auch direkt Bezug. Die ganze Hintersinnigkeit und Bezüglichkeit in „Diana II“ entfaltet sich wie bei einer russischen Matrjoschka-Puppe, wenn man Hülle für Hülle auspackt und immer tiefer ins Thema vorstößt. Günter Grass zeigt mit diesem Unikat, wie raffiniert sich philosophische Transformationsprozesse bildlich ausdrücken lassen. Die antiken Mythologien mögen ihm zu viel werden, aber die Skulptur wird für ihn gegenständlich greifbar. Grass hat uns mit diesem Werk so viel zu sagen. Das macht Diana II zu einem besonderen Kunstwerk.